Zeitschrift Migration
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2. Migration aktuell Ein Einwanderungsland wie zum Beispiel die USA ist Deutschland zwar nicht. In Amerika war die Einwanderung von Bevölkerungsgruppen aus verschiedenen Ländern staatsgründend und ohne sie wären dort keine Staaten entstanden. Dennoch wird der Begriff "Einwanderungsland" auch für Deutschland zunehmend ungenierter benutzt (vgl. auch Bildungsplan für das Gymnasium. Kursstufe, 23. 8. 2001, in: Lehrplanheft 3/2001, S. 11). Eventuell zutreffender und weniger emotionsbeladen ist allerdings der Begriff "Zuwanderung". Betrachtet man die Zu- und Fortzüge der letzten vierzig Jahre, fällt der wellenförmige Verlauf auf, der sich durch Konjunkturschwankungen und politische Entwicklungen erklärt. So brachte etwa das Ende des Ost-West-Konfliktes einen gravierenden Einschnitt (M1a,M1b). 2003 lebten in Deutschland 7,33 Millionen Ausländer, ein Anteil
von 8,9 % der Gesamtbevölkerung (vgl. V. 1, S. 44: M4:
Nachbarn aus dem Ausland). In Baden-Württemberg beträgt der Anteil der Ausländer
an der Bevölkerung ca. 12,1 Prozent, in einigen Ballungsräumen über 19 Prozent (M2a,
M2b ). Interessant in diesen Zusammenhängen ist die Anzahl der
Zuwanderer aus den am 1. Mai 2004 in die EU beigetretenen Ländern. Diese sind
pro Beitrittsland ebenfalls unter
www.statistik.baden-wuerttemberg.de abrufbar. Unter den verschiedenen Parteien und gesellschaftlichen Gruppierungen wurde aber jahrelang die Frage hart debattiert, ob eine Zuwanderung überhaupt notwendig sei, damit zum Beispiel die Innovationskraft von Wirtschaft und Gesellschaft nicht beeinträchtigt werde, und wenn ja, in welchem Ausmaß, unter welchen Bedingungen und Beschränkungen. Der Konflikt darum ist seit der Verabschiedung des neuen Zuwanderungsgesetzes im Juli 2004 durch den Bundestag und Bundesrat (1. Juli bzw. 9. Juli 2004) im Großen und Ganzen beigelegt (siehe S. 48–49). Besondere Regelungen gelten schon seit Jahren für Spätaussiedler, d. h. deutsche Volkszugehörige (GG Art. 116) aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, Polen, Rumänien sowie anderen osteuropäischen Staaten. Seit 1993 darf die Zahl der aufzunehmenden Personen von 220 000 pro Jahr nicht überschritten werden. Weisen Spätaussiedler im Aufnahmeverfahren ihre deutsche Abstammung sowie ihre kulturelle, insbesondere sprachliche Prägung nach, erwerben sie wie auch ihre Familienangehörigen die deutsche Staatsangehörigkeit. Seit 1993 müssen die Antragsteller, wenn sie nicht aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion kommen, glaubhaft machen, dass sie als Volkszugehörige noch am 31. 12. 1992 oder danach persönliche Benachteiligungen erlitten haben. Mittlerweile gehen die Zuzüge stark zurück (M5a, M5b), auch infolge einer gezielten Unterstützung durch die verschiedenen Bundesregierungen, welche die Lebensverhältnisse in den Herkunftsländern schrittweise verbessern konnte. Zwischen etwa 60 000 und 100 000 kommen im Jahr nach Deutschland, circa 10 000–12 000 davon nach Baden-Württemberg. Das Innenministerium organisiert seit 2002 so genannte »Integrationslotsen« besonders für Jugendliche aus Russland. Auch die Zahl der Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien verminderte sich seit 1999 beträchtlich. Sie betrug
Einen weiteren Anteil der Migration nach Deutschland stellen die Asylbewerber dar (M6). Nicht zuletzt aufgrund der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurde 1949 der Artikel 16 in das Grundgesetz aufgenommen (»Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. Zum Änderungsgesetz von 1993, Artikel 16a, vgl. GG im Profil, in: Politik und Unterricht, H. 1/99, S. 44–45). Die Prozentzahlen der Anerkennung ausländischer Flüchtlinge schwanken zwischen 9 Prozent 1995 und 4 Prozent 1998 und sind weiter rückläufig, d. h. eine große Zahl der Anträge wurde abgelehnt und zahlreiche Asylbewerber mussten damals wie heute wieder ausreisen. Nach dem Amsterdamer Vertrag der Europäischen Union im Mai 1999 sind jedoch eine Vereinheitlichung der Asyl- und Zuwanderungspolitik sowie Leitlinien für eine Migrationsstrategie vorgesehen. Neue, 2005 in Kraft tretende Richtlinien der Harmonisierung von EU-Recht sowie das ebenfalls ab 2005 geltende neue Zuwanderungsgesetz werden eine Änderung der Asylpraxis auch in Deutschland bewirken (siehe S. 49).
Bundesinnenminister Schily (SPD) hatte im Jahre 2000 eine
Unabhängige Kommission »Zuwanderung« unter der Leitung der ehemaligen
Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) einberufen (die so genannte
»Süssmuth-Kommission«). Neben Flüchtlingsschutz, Beschleunigung des
Asylverfahrens, Familiennachzug und Integration schlug diese Kommission
Regelungen zur Arbeitsmigration vor (vgl. Heft »Migration«, 1.und 2. Auflage
2002, 2003, , S. 55; www.lpb-bw.de), welche die Zuwanderung »Am Anfang war die Greencard«: Um den Fachkräftemangel in der Informations- und Kommunikationswirtschaft zu mindern, vereinbarte die Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder im Mai 2000 ein Sofortprogramm (Green Card-Regelung), wonach bis zu 20 000 ausländische IT-Spitzenkräfte angeworben werden sollten. Bis zum 31. Januar 2002 wurden zwar nur 10 994 Green Cards erteilt, ihre Einführung gilt jedoch als positives Signal: Das »Bild des Gastarbeiters bei der Müllabfuhr « wich dem des »Experten bei der Computerfirma«. 2004 ist es allerdings um diese Regelung recht still geworden. Für eine grundsätzliche Neuregelung legte die Bundesregierung dem Bundestag 2002 ein »Gesetz zur Steuerung und Begrenzung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern« (Zuwanderungsgesetz) vor, dem eine Mehrheit im Bundestag zustimmte. Die Zustimmung im Bundesrat war aber umstritten, so dass Bundespräsident Rau erst nach längerer Überprüfung dann doch am 20. Juni unterschrieb. Dennoch ließ er den Weg einer verbindlichen Entscheidung über den Abstimmungsmodus im Bundesrat durch das zuständige Bundesverfassungsgericht offen. Der Zweite Senat des Gerichts entschied am 18. Dezember 2002, dass das Zuwanderungsgesetz im Bundesrat keine Mehrheit gefunden habe und damit ungültig sei. Gegenstand des Normenkontrollverfahrens war aber nicht die Zuwanderung generell, sondern allein die Beratung und Abstimmung über das Gesetz in der Ländervertretung. Deshalb konnte die Süddeutsche Zeitung nach der Urteilsverkündung formulieren: »Das Zuwanderungsgesetz ist tot, es lebe das Zuwanderungsgesetz.« Ganz so einfach war der Weg zum neuen Zuwanderungsgesetz jedoch
nicht. Erst 18 Monate später ist dieses grundlegende Gesetzeswerk nach langen
und intensiven Verhandlungen im Vermittlungsverfahren vom Bundestag am 1. Juli
2004 verabschiedet worden. Der Bundesrat stimmte dem Gesetz am 9. Juli 2004 zu.
In Kraft tritt es am 1. Januar 2005. Dieses Gesetz umfasst 15 Artikel, wobei allein Artikel 1 in zehn Kapiteln 107 Paragraphen enthält, deren wichtigste Punkte folgende sind:
Schlagwortartige Stimmen zur Einigung im Zuwanderungsgesetzeskompromiss sind knapp skizziert in M7. »Neue Perspektiven für die deutsche Asylpraxis« Die Erweiterung der EU um zehn Länder seit dem 1. Mai 2004 wird eine weitere Migration in die Bundesrepublik zur Folge haben, ebenso die für 2007 zur Debatte stehende Aufnahme von Bulgarien und Rumänien. Wenn einerseits das Einbeziehen neuer Wirtschaftsräume in den gemeinsamen Markt Vorteile für Deutschland bringen wird, können andererseits Wanderungsentscheidungen neuer EU-Bürger im Rahmen der EU-Gesetzgebung den Wettbewerbsdruck auf dem Arbeitsmarkt erhöhen und die Leistungen der jeweiligen Sozialsysteme beeinflussen (M8). Von Kritikern der ab 1. Januar 2005 in der EU geltenden Regelung wird gar eine beträchtliche »Masseneinwanderung aus Osteuropa in die westeuropäischen Sozialkassen « befürchtet, andere halten das eher für eine Entwicklung zur »Angleichung und Konvergenz« (vgl. Zusatz zu M8, S. 55 und ausführlich Stuttgarter Zeitung vom 1. Juni 2004, S. 5). Wichtig für die Berufs- und Lebensverhältnisse von Zuwanderern ist auf alle Fälle ihre Integration in die deutsche Gesellschaft. Notwendig sind, wie das neue Zuwanderungsgesetz dies auch vorsieht, gezielte und differenzierte Maßnahmen zur Erstförderung von Zuwanderern sowie der Förderung der bereits im Lande lebenden. Das bedeutet eben, dass Deutsch-, Arbeitsmarkts- und Sozialkundekurse verpflichtend werden (M9), wobei unter Sozialkunde Grundzüge der Rechtsordnung, Geschichte und Kultur verstanden werden kann. Zuwanderer müssen erkennen, dass Integration nicht individueller Beliebigkeit unterworfen ist, sondern dass von ihnen Anforderungen zu verlangen sind – Beherrschung der deutschen Sprache und Akzeptanz der im Grundgesetz formulierten demokratischen Werte – weil nur über eine sprachliche und sozialkundliche Kompetenz auch ein beruflicher Erfolg möglich ist. Die erhofften positiven Resultate werden aber auch zur besseren Akzeptanz von Zuwanderern beitragen (M10). Ein ungelöstes Problem im Zusammenhang mit der internationalen Migration stellt die wachsende Zahl illegaler Zuwanderer dar. Im Juni 2002 hatten sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Sevilla auf einen Stufenplan geeinigt, der innerhalb eines Jahres den Aufbau eines grenzüberschreitenden Netzes sowie die Gründung einer Sondereinheit von Fachbeamten vorsieht. Zudem soll eine polizeiliche Eingreiftruppe für Krisensituationen geschaffen werden. Innerhalb von fünf Jahren soll ein europäisches Grenzschutzkorps entstehen, das die EU-Außengrenzen lückenlos überwachen soll, wobei aufgegriffene Illegale in gemeinsamer Verantwortung abgeschoben werden können. Abgelehnt wurde eine »Migrationsklausel«, d. h. der Entzug finanzieller Mittel für Herkunfts- und Transitländer illegaler Zuwanderer. Solchen Ländern soll aber technische und finanzielle Hilfe beim Schutz eigener Grenzen und beim Kampf gegen Schlepperbanden angeboten werden, deren kriminelle Gewinne weltweit auf circa 20 Milliarden Dollar geschätzt werden. Deutschland ist hier also mit seinen Regelungen nicht auf sich allein gestellt. Manche Vorschläge aus den EU-Staaten sind jedoch sehr
umstritten. Die Innenminister der fünf großen EU-Staaten konnten sich im Oktober
2004 nicht auf weitere Maßnahmen gegen die illegale Einwanderung einigen. Der
Idee von Auf- und Abfanglagern (»Aufnahmeeinrichtungen«, »Anlaufstellen«, so der
deutsche Innenminister Otto Schily) in Nordafrika konnten Spanien und Frankreich
mit Hinweis auf die Menschenrechte nichts Positives abgewinnen. Einigkeit
herrschte dagegen darüber, bis 2006 EU-Reisepässe mit digitalem Fingerabdruck
einzuführen.
Ankommen. Varmak. Türkische Musliminnen und
Muslime in Schwäbisch Hall. Hrsg. von der Landeszentrale für
politische Bildung Baden-Württemberg mit Unterstützung der
Landesstiftung. Klaus J. Bade: Europa in Bewegung. Migration vom
späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 2000 Klaus J.
Bade/Rainer Münz: Migration in Europa. Historische Erfahrungen
und aktuelle Probleme.Woher? Wohin? Europäische
Integrationsmuster 1950-2000. In: Informativ und Aktuell, hrsg.
von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Klaus J. Bade/Rainer Münz: Migrationsreport 2000. Fakten – Analysen – Perspektiven. Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. © 2000 Campus Verlag, Frankfurt/Main Karl-Heinz Meier-Braun: Deutschland, Einwanderungsland. edition suhrkamp 2266, Frankfurt am Main 2002 (Besprechung von Dieter Oberndörfer in: Bürger im Staat, Heft 4/2002) Karl-Heinz Meier-Braun/Martin A. Kilgus (Hrsg.): Migration 2000 – Perspektiven für das 21. Jahrhundert. 5. Radioforum Ausländer bei uns. Nomos, Baden-Baden 1998 Europa in Baden-Württemberg: ein Panorama. In: Zeitschrift DEUTSCHLAND & EUROPA. Heft 43/44, 2002, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (besonders S. 6–10: Zuwanderung – Fünf Porträts) Siegfried Frech: Migration – ein Thema für den
Geschichtsunterricht. Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik
in Deutschland: »Hirsch«-Begegnungsstätte für Ältere e. V. Universitätsstadt Tübingen, Kulturamt: Heimat – hier und dort. Älterwerden in der Fremde – Jugendliche ausländischer Herkunft berichten über ihre Eltern und Großeltern. Schwäbisches Tagblatt, Tübingen 1999 Migration und Asyl in Zahlen. Tabellen,
Diagramme, Erläuterungen. Karl Pellens (Hrsg.): Migration. Lernchancen für
den historischpolitischen Unterricht (= Didaktische Reihe der
Landeszentrale für politische Bildung
Baden-Württemberg),Wochenschau-Verlag, Projekt Zuwanderung. Türken in Deutschland –
Einstellungen zu Staat und Gesellschaft. Von Ulrich von
Wilamowitz-Moellendorff. Luzia Simons: face migration – Sichtvermerke. Katalog Ausstellung Württembergischer Kunstverein 2002 (Ein Gemeinschaftsprojekt des SWR, der Stadt Stuttgart und des Landes Baden-Württemberg) Sophia Tiemann: Die Integration islamischer Migranten in Deutschland und Frankreich – ein Situationsvergleich ausgewählter Bevölkerungsgruppen.Wostok Verlag, Berlin 2004 Vertraute Fremde. Italiani a Ludwigsburg. Katalog zur Ausstellung im Städtischen Museum Ludwigsburg. Ludwigsburg 1999 Weggehen – Ankommen. Migration in der
Geschichte. Broschüre Dorothee Wierling: (Hrsg.): Heimat finden. Lebenswege von Deutschen, die aus Russland kommen. Ein Lesebuch. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2004 Karl-Heinz Meier-Braun/Reinhold Weber(Hrsg.):
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