Landschaft und Wirtschaft
3. Bevölkerung und Wirtschaft im Oderraum heute
Der größte Teil des hier behandelten Odereinzugsgebietes - ohne
Wartheraum - war nach 1945 im Zuge der Westverschiebung des polnischen Staates
von einem nahezu vollständigen Bevölkerungsaustausch betroffen.
Lediglich die kleine Volksgruppe der Kaschuben und Slowinzen im östlichsten
Pommern (Rest der pomoranischen Urbevölkerung) und die große Gruppe
der gemischt deutsch-polnisch sprechenden Oberschlesier wurden als
"Autochthone"(polnische Ureinwohner) eingestuft und nicht ausgewiesen. Nach
der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aufgrund der alliierten
Beschlüsse von Jalta und Potsdam zogen in die verlassenen Städte
und Dörfer nach und nach Polen, die zu einem Drittel aus den bisherigen
polnischen Ostgebieten (von Lemberg/Lwów, Brest und Wilna) ebenfalls
vertrieben worden waren und zu zwei Dritteln aus Zentralpolen kamen. Ihre
erwachsenen Nachkommen und deren Kinder bilden die heutige Bevölkerung;
Schlesien (Slask) und Pommern (Pomorze) sind ihre Heimat. Bereits seit den
70er Jahren übersteigt die Zahl dieser polnischen Neubürger diejenige
der deutschen Vorkriegsbevölkerung.
Wie früher ist aufgrund der regional unterschiedlichen Wirtschaftsgrundlagen
der mehr agrarisch geprägte Norden (Pommern, Ostbrandenburg) weniger
dicht besiedelt als der Süden (Schlesien) mit seinen
Industriekonzentrationen. Die staatlich geförderte weitere
Industrialisierung nach 1945 führte überall zu einer wachsenden
Verstädterung. Früher war Stettin die einzige Großstadt
Pommerns, heute weisen auch Köslin (Koszalin) und Stolp (Slupsk) mehr
als
100 000 Einwohner auf. Schlesien hat zusätzlich zu den früheren
vier Großstädten (Breslau, Gleiwitz, Hindenburg, Beuthen) vier
weitere bekommen (Oppeln/Opole, Waldenburg/Walbrzych, Grünberg/Zielona
Góra, Liegnitz/Legnica). In allen Städten wuchs und wächst
die Einwohnerschaft, gleichzeitig nimmt sie aber seit Jahren in den
ländlichen Siedlungen ab. Durchweg ist die Bevölkerung in den
Westgebieten etwas jünger als im gesamtpolnischen Durchschnitt.
Der außer in Oberschlesien sehr geringe Anteil der verbliebenen
Deutschen, die bis 1990 in ihrem nationalen Bekenntnis und im Gebrauch
der deutschen Sprache behindert wurden, darf sich seit dem deutsch-polnischen
Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit
von 1991 als Minderheit organisieren und wird nicht mehr diskriminiert. Die
nach 1945 erfolgte zwangsweise Polonisierung der Vor- und Familiennamen
können die Betroffenen wieder rückgängig machen. Die "Deutschen
Freundschaftskreise", oder "Deutschen sozialkulturellen Gesellschaften",
hatten 1993 rund 300 000 Mitglieder, davon fast 280 000 in Oberschlesien
(Górny Slask), vor allem in der Wojewodschaft Oppeln (Opole). Seit
den Parlamentswahlen vom September 1993 sitzen im Sejm vier Vertreter der
deutschen Minderheit, ein weiterer im Senat. Auch werden bereits 15 Gemeinden
von gewählten deutschen Bürgermeistern geleitet. Deutscher
muttersprachlicher Zusatzunterricht konnte seit 1992 in 34 oberschlesischen
Grundschulen eingerichtet werden. Der Bedarf ist weit größer,
doch besteht Mangel an entsprechenden Lehrern. Im Herbst 1993 wurde von der
Minderheit ein erstes Deutschlehrerkolleg in Ratibor (Racibórz)
eröffnet. Auch gibt es deutschsprachige Sendungen von Radio Katowice
für die Minderheit. Zudem erweitert das Beherrschen mehrerer Sprachen
im Zuge des zusammenwachsenden Europas die beruflichen Möglichkeiten.
Die Verwaltungsgliederung ist im polnischen Staat nach 1945 dreimal
geändert worden. Heute befindet sich zwischen der Gemeinde und dem
Zentralstaat nur die Wojewodschaft, vergleichbar unserem Regierungsbezirk.
In der Landwirtschaft haben die Oderregionen seit jeher eine hohe
Bedeutung. Die erste Rübenzuckerfabrik der Welt wurde 1802 von Franz
Karl Achards in Kunern (Niederschlesien) gebaut. Schlesien und Pommern waren
früher für das Deutsche Reich wichtige Kornkammern. Dieselbe Bedeutung
für Polen hat heute nur noch Pommern (Pomorze), denn die erheblich
höhere Bevölkerungsdichte in Schlesien (Slask) läßt
dort keine Überschüsse an landwirtschaftlichen Produkten mehr
entstehen. Die Anteile der Betriebsformen bzw. -größen haben sich
im Verhältnis zur deutschen Zeit nur wenig geändert: Der einstige
private Großgrundbesitz, zumeist Rittergüter, wurde zu staatlichen
Großgütern. Diese nahmen in Hinterpommern (Pomorze Zachodnie)
vor der Wende 55% der Agrarfläche ein; 1993 waren es - trotz Privatisierung
- noch 40%. In Schlesien (Slask) dominiert die private Kleinbauernwirtschaft
mit dem Pferd als Zugkraft. In den Industriegebieten wird das Land fast nur
im Nebenerwerb bestellt.

Ernte in der privaten Klein-Landwirtschaft
Das Oberschlesische Industriegebiet entstand als das älteste
Steinkohlenbergbau- und Schwerindustrie-Revier Festlandseuropas schon Ende
des 18. Jahrhunderts, früher als das Ruhrgebiet. Heute ist das Revier
- oder etwas weiter gefaßt die Wojewodschaft Katowice - der
größte Bevölkerungs- und Industrie-Ballungsraum Polens (4
Mio. Einwohner, bis vor kurzem 800 000 Industriebeschäftigte). 98% der
polnischen Steinkohle und 53% des Roheisens Polens kommen aus Oberschlesien.
Die beiden Großstädte Kattowitz (Katowice) - im 19. Jahrhundert
gegründet - und Gleiwitz (Gliwice) - entstanden im 13. Jahrhundert -
sind als sog."Edelstädte" durch Verwaltungs- und kulturelle Funktionen
sowie zahlreiche Hochschulen geprägt, während die meisten der weiteren
31 Groß- und Mittelstädte ein Konglomerat von Industrieansiedlungen
darstellen.

Oberschlesisches Industriegebiet (Górnoslaski Okreg
Przemyslowy) bei Kattowitz (Katowice)
Da die meisten der über 60 Kohlenzechen, der Kokereien sowie
Eisenhütten und Stahlwerke aus dem 19. Jahrhundert stammen und in
technologisch veraltetem Zustand sind, ist die Umweltsituation durch Luft-
und Gewässerverschmutzung sowie große Abraum- und Schlackenhalden
entsprechend düster: Offiziell gilt das Industrierevier als
"ökologisches Katastrophengebiet". Selbst das moderne große
Eisenhütten- und Stahlwerk "Huta Katowice", das bis 1978 östlich
von Dabrowa Górnicza errichtet wurde, hat noch unzureichende
Abgasreinigungsanlagen, was erst recht auf die 10 Kraftwerke des Reviers
zutrifft. Die allmähliche Schließung der alten Industrien und
Bergwerke hat die Arbeitslosigkeit ständig steigen lassen, aber nun
will die Firma Opel in Gleiwitz (Gliwice) ihr modernstes 470 Millionen DM
teures Autowerk errichten, das schon 1998 2000 Mitarbeitern Arbeitsplätze
bieten soll (Spatenstich im Oktober 1996).
Die nach 1960 aufgeschlossenen Braunkohlenlagerstätten spielen
für die Stromversorgung des Landes eine wachsende Rolle (30%). Im polnischen
Teil des Zittauer Beckens liegt bei Türchau (Turów) der
tiefste Tagebau - die Grube soll bis 230 m tief abgebaggert werden - und
eines der größten Kraftwerke Polens (2000 MW), dessen Abgasreinigung
gerade installiert wird (schrittweise bis zum Jahr 2002). Die durch diesen
Tagebau verursachten Bodensenkungen und Gebäudeschäden auf
sächsischer Seite haben im Zittauer Raum große Probleme hervorgerufen.
In der Schlesischen Bucht ist in den letzten drei Jahrzehnten das
Kupferindustriegebiet Liegnitz (Legnica) - Lüben (Lubin) - Glogau
(Glogów) entstanden. Dadurch wurde Polen zu einem bedeutenden
Kupferexporteur, das Gebiet aber zweites ökologisches Katastrophengebiet
des Landes mit extrem hohem Schwefeldioxyd-, Blei- und Kupfergehalt in der
Luft. Die Situation bessert sich seit der Installierung einer
Abgas-Reinigungs-Anlage.

Von der Firma Hoechst gelieferte Abluftreinigungsanlage in
der Kupferhütte in Liegnitz (Legnica).
Die vielfältige meist mittelständische Industrie Breslaus
(Wroclaw) und der Städte im sudetischen Bergland hat den Zweiten
Weltkrieg nur teilweise überlebt. Stellenweise wurden neue
Großbetriebe errichtet. So produziert ein Werk in Breslau (Wroclaw)
60% aller polnischen Kühlschränke, in Neisse (Nysa) liefert ein
Riesenwerk 60% aller Autobusse Polens.
Das Industriegebiet von Stettin (Szczecin) entwickelt sich zum
Ballungsraum. Hier sind die meisten Betriebe der deutschen Zeit nach den
Kriegszerstörungen oft vergrößert wiedererstanden (Zucker-,
Papier-, Lebensmittel-, Düngemittel-, Zementfabriken, auch die
Eisenhütte). Am stärksten wurde der Schiffbau ausgeweitet: Die
heutige Warski-Werft lieferte schon vor der Wende ein Drittel des polnischen
Schiffsbauvolumens. Sie wurde nach der Wende durch radikale Sanierung
konkurrenzfähig erhalten, während die Lenin-Werft in Danzig (Gdansk),
die Wiege der Solidarnosc, 1996 in Konkurs ging.
Die Zahl der Industriebeschäftigten der Region Stettin (Szczecin) -
100 000 - wird aber um das Dreifache übertroffen von den in
Dienstleistungsbereichen Tätigen (Hafenwirtschaft, Handel, Verkehr,
Verwaltung, Kultur). Neuerrichtet wurden die Universität und fünf
weitere Hochschulen.
Der Seehafen Stettin (Szczecin) ist zusammen mit dem Vorhafen Swinemünde
(Swinoujscie) dem Güterumschlag nach der größte von Polen.
Hafen
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1938
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1979
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1989
|
1991
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1993
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Stettin/Szczecin
|
8246
|
26697
|
19348
|
17229
|
19307
|
davon Swinemünde/Swinoujscie
|
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10041
|
9956
|
7911
|
7782
|
Danzig/Gdansk
|
1564
|
25000
|
18859
|
17001
|
23261
|
Rostock
|
576
|
14800
|
20775
|
7446
|
11705
|
Hamburg
|
25742
|
61246
|
53857
|
60332
|
60332
|
(Güterumschlag in 1000 t.)
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Die umgeschlagenen Gütermengen sind beim Versand und Empfang ungefähr
gleich groß, aber beim Versand dominiert die Kohle mit über 70%,
gefolgt von Düngemitteln, Chemikalien, Stückgut, Holz und Getreide,
beim Empfang stehen Erze mit über 40% an der Spitze, es folgen Getreide
(über 20%), Erdöl und Stückgüter. 1991 liefen fast 13
000 Schiffe ein. Bedeutsam ist auch der Transitumschlag, wobei die Tschechische
Republik an erster Stelle steht. Bei der Passagierschiffahrt hält Stettin
(Szczecin) noch deutlicher die Spitze unter den polnischen Häfen: Je
ca. 200 000 Reisegäste pro Jahr besteigen und verlassen hier das Schiff,
in Danzig (Gdansk) sind es zehnmal weniger.
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